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Die Tabula scripta als Alternative

Tabula rasa Strategie bei der Wydäckersiedlung in Zürich Wiedikon © Aita Flury

21. Dezember 2021
Tom Avermaete | Baukultur persönlich

Die Tabula scripta als Alternative

Architekten und Stadtplaner sollen ihre städtebaulichen Projekte stärker als eine Auseinandersetzung mit vorhandenen Gebäuden, Freiräumen, Materialien und Nutzungen betrachten. Die Idee der Tabula scripta bietet eine Alternative.

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts glaubten noch viele Stadtplaner und Architekten, dass man bei der Planung der zukünftigen Stadt von einem weissen Blatt Papier ausgehen müsse. Eine solche Tabula rasa - Ludwig Hilberseimer und Le Corbusier benutzten dieses Konzept gerne und oft - bedeutete, dass alles ausradiert werden musste, bevor eine neue Stadt gebaut werden konnte. Modern zu sein, war gleichbedeutend mit dem Bruch mit der Vergangenheit.

Eine wachsende Gruppe von Entwerfern fordert heute, dass wir uns endgültig von der Idee einer solchen Tabula rasa verabschieden und die Stadt als Tabula scripta verstehen. André Corboz, der über ein Jahrzehnt an der ETH Zürich Städtebau lehrte, führte bereits vor vierzig Jahren die Idee der Landschaft als «Palimpsest» ein: eine Schiefertafel, die bereits mit verschiedenen Konstruktionen, Freiräumen und Materialien, aber auch mit den Praktiken und Erinnerungen verschiedener Gruppen von Bürgern, mit Fauna und Flora überschrieben ist.

Die Tabula scripta als Alternative

Zeugnisse der Industriekultur als Baukultur: Die Wettbewerbseingabe für "Maaglive" von Lacaton hätte den Erhalt der Maag-Hallen ermöglicht © Lacaton & Vassal

Die Tabula scripta als Alternative

Neue Gebäude im Austausch mit der bestehenden Stadt: Wirtschaftsfakultät der Universität Luigi Bocconi in Mailand von Grafton Architects © Gaia Vittoria Marturano

Was bedeutet es also, die zukünftige Stadt in Bezug auf eine solche Tabula scripta zu entwerfen? Die ehemalige ETH-Professorin Anne Lacaton und ihr Partner Jean-Philippe Vassal sind seit mehr als zwanzig Jahren Vorreiter bei der Beantwortung dieser Frage und wurden nicht zuletzt dieser Leistung wegen in diesem Jahr mit dem höchsten Preis in der Architektur, dem Pritzkerpreis, ausgezeichnet. In ihren Projekten plädieren sie dafür, so viel wie möglich von der bestehenden Bebauung zu erhalten, wenn ein neues Projekt geplant wird. So haben sie auch in ihrem Projekt für das Maag-Areal in Zürich vorgeschlagen, grosse Teile der bestehenden Industriehallen zu erhalten und mit neuen Gebäuden zu ergänzen, damit eine neue urbane Qualität entsteht.

Die an der USI lehrenden Yvonne Farrell und Shelley McNamara von Grafton Architects, ebenfalls Pritzkerpreisträgerinnen, zeigen mit ihrem Projekt für die Bocconi-Universität in Mailand, dass bestehende und neue urbane Qualitäten in ein geschicktes Zusammenspiel gebracht werden können, so dass aus der formalen Komposition auch eine neuartige soziale Dynamik entsteht.

Die Projekte von Lacaton & Vassal und Grafton illustrieren, dass die Konzeption der neuen Stadt als Weiterentwicklung des Bestehenden nicht nur nachhaltiger ist, sondern auch eine komplexere Kombination von existierenden und neuen Nutzungen ermöglicht. Stadtgestaltung so zu denken, ist also auch ein Weg, um verschiedene Gruppen von Bürgern, die in den üblichen Verfahren oft ausgeschlossen sind, mit einzubeziehen.

Die Tabula scripta als Alternative

Aktueller tabula rasa Eingriff in die Blockrandstruktur des Zürcher Kreis 4 © Aita Flury

Die Tabula scripta als Alternative

Aktueller tabula rasa Eingriff in die Blockrandstruktur des Zürcher Kreis 4 © Aita Flury

Die Baukultur in der Schweiz ist im Vergleich zu jener in anderen Ländern noch oft vom Tabula-rasa-Ansatz geprägt. Wenn wir über das Generische hinauswollen, um nachhaltigere und lebendigere Nachbarschaften zu schaffen, müssen wir die Architektur der Stadt nicht mehr als eine reine Erfindung des Neuen verstehen, sondern vielmehr als einen Eingriff in die Tabula scripta der vielfältigen Räume und Praktiken, der nichtmenschlichen und menschlichen Ressourcen, die bereits vorhanden sind.

Eine solche neue Konzeption der Stadtgestaltung erfordert eine Anpassung der Gesetzgebung und der Bauvorschriften, damit eine Neuinterpretation des Bestehenden leichter möglich wird. Ausserdem müssen die Architekten und Stadtplaner ihre Rolle neu überdenken. Sie müssen ihre städtebaulichen Projekte stärker als eine Auseinandersetzung mit vorhandenen Gebäuden, Freiräumen, Materialien und Nutzungen betrachten. Grundlage dafür ist eine sorgfältige Erfassung und Analyse der bestehenden räumlichen und sozialen Verhältnisse. Die Ergebnisse einer solchen eingehenden Untersuchung der vorhandenen Stadt liefern auch Anhaltspunkte, wie unser künftiges Zusammenleben aussehen könnte – und sei es nur, indem sie uns an die Komplexität und Vielfältigkeit des städtischen Lebens erinnern.

Das Verständnis der vielfältigen historischen Schichten bildet die Grundlage, auf der das Neue konzipiert werden kann und sollte. Dies vermittelt auch andere Bilder des Zusammenlebens: Sie werden die Stadt nicht mehr generisch in immergleichen Ansichten darstellen, sondern als Verflechtung von vielen bereits bestehenden räumlichen und sozialen Realitäten.

Die Tabula scripta als Alternative

Das Fragment der unvollendeten Sihlhochstrasse ist fester Bestandteil des städtischen Palimpsests © Aita Flury

Tom Avermaete

Tom Avermaete ist Professor für Geschichte und Theorie des Städtebaus an der ETH Zürich. Seine Forschung fokussiert auf die Architektur der Stadt und die wechselnden Rollen, Zugänge und Instrumente von Architekten und Städteplanern aus einer interkulturellen Perspektive. Seine neusten Publikationen sind folgende: Casablanca – Chandigarh (mit Casciato, 2015), Shopping Towns Europe (mit Gosseye, 2017), The New Urban Condition (mit Medrano und Recaman, 2021) sowie Urban Design in the 20th Century: A History (mit Gosseye, 2021).
https://avermaete.arch.ethz.ch

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