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Des “Kuhschweizers” Baukultur

Langwies © FH Graubünden/Ingo Rasp

11. Oktober 2021
Sandra Bühler und Christian Wagner | Baukultur persönlich

Des “Kuhschweizers” Baukultur

Über Identität und Werte in der Stadt-Land-Debatte

Seit jeher liegt das architektonische Interesse von Expertinnen und Experten, Fachverbänden sowie Hochschulen in erster Linie in den Städten, den Stadtnetzen und den Agglomerationen. Je grösser die Stadt und je mächtiger das Bauvolumen, desto mehr Beachtung findet das Projekt in der Presse und in Fachkreisen.

Das «mythische Bild einer ländlichen Schweiz» müsse durch das «realistische der urbanen» ersetzt werden, lautet ein Postulat im «Städtebaulichen Porträt der Schweiz» des Autorenteams mit Roger Diener, Jacques Herzog, Marcel Meili und Christian Schmid. Entsprechend konzentriert sich der Städtebau in Lehre und Forschung auf die Metropolitanregionen. Unter der Federführung des Bundesamts für Raumentwicklung formierten sich regionale Foren, die die Einzigartigkeiten und Charaktere der unterschiedlichen Bereiche der Schweiz herausarbeiteten und daraus ein Raumkonzept entwickelten.

Mit der «Davos Declaration2018» und der «Strategie Baukultur» kommt eine neue Welle des Umdenkens auf uns zu – die Besinnung auf die gestalterischen und räumlichen Werte unseres eigenen Lebensumfelds. Und erneut liegt der Fokus auf den urbanen Räumen. Nicht verwunderlich, leben laut Bundesamt für Statistik drei Viertel der Bevölkerung der Schweiz im urbanen Raum. In knapp 540’000 städtischen Gebäuden befinden sich rund zwei Millionen Wohnungen. So ist es in einer Medienmitteilung vom 20. April 2021 zu lesen. Das Schlagwort lautet «Quartierentwicklung».

Aber Hand aufs Herz: Wer in der grossen Welt nimmt die kleine Schweiz schon als Stadt wahr? Der fortschreitenden Verstädterung zum Trotz hält sich das idealisierte Bild einer bäuerlich-ländlichen Schweiz mit pittoresker Landschaft hartnäckig. Das Edelweiss ist das Markenzeichen für Schweizer Qualität und Einzigartigkeit. Es schmückt gleichermassen die Werbung für Zahnarztpraxen, das Fünffrankenstück oder das Rangabzeichen des Generalstabs der Armee. Doch steht es nicht insbesondere für die Schönheit der Schweizer Landschaft? War das Bild des «Kuhschweizers» einst abschätzig, hat es mittlerweile Kultstatus. Die Kuh mit Glocke findet sich auf jeder Destinations-Werbung. Bilden nicht unsere ländlichen und (vor)alpinen Bergregionen und Dörfer das entscheidende Wahrnehmungsfundament aus Sicht des Auslands?

Des “Kuhschweizers” Baukultur

Alpabzug am Flimserstein © Flims Laax Falera/Philipp Ruggli

Noch vielleicht – zusammen mit den Bergen, der Schokolade, der Sauberkeit, dem Finanzplatz und dem wirtschaftlichen Wohlstand. Der alte, sonnenverbrannte Heustall der Bauernfamilie weckt romantisierende Erinnerungen an frühere Zeiten und verwurzelt das Bild des Ortes als ländliche Struktur. Doch allein und losgelöst wird er zum Relikt und irgendwann zum Störfaktor zwischen grossen Wohnblöcken. Das idyllische Bild schmilzt wie der Gletscher in der Sonne. Die Dörfer bedürften als eigentliches Aushängeschild dringend unserer grössten baukulturellen Aufmerksamkeit! Unzählige für das Bild der Schweiz so wichtige und repräsentative Land- und Berggemeinden stehen vor einer unvermeidlichen, gestalterischen Neudefinition: Wahrung und/oder Wandel?

Und - als ob diese Frage nicht schon kontrovers genug wäre - stösst unsere «Direkte Demokratie» und das «Milizsystem» hinsichtlich einer baukulturellen, nachhaltigen Siedlungsgestaltung gerade in den kleineren Gemeinden an seine Grenzen. Sowohl die Bauvorschriften wie auch die Haltung der nebenamtlichen Baubehörden basieren oft noch auf dem Zeitgeist des uneingeschränkten Wachstums. Bekanntlich gibt auch das Baugesetz bei gestalterischen Fragen zur Weiterentwicklung der Baukultur keine Antwort. Spezifische Arbeitsinstrumente für die Weiterentwicklung des Ortsbildes gibt es kaum. Doch genau diese braucht es heute – bevor die Erneuerungswelle und unser Wohlstand die wertvollen, überlieferten Strukturen überrollt.

Des “Kuhschweizers” Baukultur

Fläsch © Christian Wagner

Das Stadt-Land-Gefälle in Bezug auf «Baukultur» scheint noch wesentlich ausgeprägter als dasjenige der «Kultur» generell. In vielen ländlichen Regionen können noch heute Tradition, Brauchtum, Musik und aktives Vereinsleben durchaus einen valablen Gegenpol zur Stadt setzen. Nicht so in der globalisierten Baubranche. Der Granit aus China ist auch im Safiental billiger…

Kommt dazu: Im Gegensatz zur Stadt und den Agglomerationsgemeinden tritt der Investor in der «alpinen Brache» nicht als Gesuchsteller auf, sondern als Mäzen. Stillschweigend gilt: Einem geschenkten Gaul schaut man nicht ins Maul. Die Angst vor der Abwanderung, der Schulschliessung und der Überalterung lähmen eine selbstbewusste und aktive Haltung der Gemeinden, zu ihren eigenen überlieferten Werten und Qualitäten zu stehen und diese aktiv zu verteidigen. So bröckelt das Bild der Schweiz wie die unzähligen altehrwürdigen Häuser in den Dörfern entlang den einstigen Passstrassen, deren Stellung unmittelbar am Strassenrand eine Sanierung unrentabel machen. Wo trotzdem investiert wird, wähnt man sich im falschen Film – oder doch bei den Kuhschweizern in der Agglo von morgen?

Identität und Werte sind nicht billig. Das Wissen des traditionellen Handwerks ist bei so mancher Fachperson mit Berufsstolz zwar durchaus noch vorhanden und die Leidenschaft dafür ist leicht entfacht – allein die Gelegenheiten dazu fehlen oft. Die klassischen Wärmedämmverbundsysteme sind doch viel schneller zur Hand wie Strickbau oder Holzschindeln.

Des “Kuhschweizers” Baukultur

Fassadensanierung mit Kuhmist © Sandra Bühler

Kein Wunder, schütteln die Jungen bei «Lueget vo Bärge und Tal» den Kopf. Weder grüne Matten noch rote Gletscher machen noch Sinn. Die Baukultur-Debatte muss dringend von der Stadt aufs Land gerichtet werden!

Auf dem Land und in den Bergen lebt auch ein Viertel der Bevölkerung – das sind immerhin zwei Millionen Menschen. Ganz zu schweigen von den vielen Heimweh- und Wochenend-Ausflüglerinnen und -Ausflüglern mit ihren unzähligen Maiensässen und Ferienwohnungen. Schweizer Baukultur in den ländlichen Gemeinden, in den Talschaften und in den unterschiedlichen Regionen steht für unsere eigentliche Stärke, auf die wir doch so stolz sind: die Vielfalt in der Einheit, die wir selbstbewusst in die Welt tragen.

Des “Kuhschweizers” Baukultur

Vals © FH Graubünden/Ingo Rasp

Sandra Bühler und Christian Wagner

Sandra Bühler ist Dozentin für Architektur und Ortsbildentwicklung und Christian Wagner ist Professor für Architektur, beide am Institut für Bauen im alpinen Raum an der Fachhochschule Graubünden.

https://www.fhgr.ch/fachgebiet...

Sandra Bühler und Christian Wagner
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