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Die Evolution unserer Baureglemente

Entwicklungsdruck zeigt das Spannungsfeld zwischen Verdichtung und Grünflächen © Allen + Crippa Architektur GmbH


29. November 2023
ALLEN & CRIPPA | Baukultur persönlich

Die Evolution unserer Baureglemente

Vom Einfamilienhausquartier zur zukunftsfähigen Siedlungsplanung: Wie das Baureglement unsere Gesellschaft und Umwelt verändert und warum ein radikaler Paradigmenwechsel nötig ist.

Das generische Einfamilienhausquartier ist für jeden von uns ein vertrautes Bild. In der ganzen Schweiz, vorallem aber in ländlichen Gebieten wurden in der Zeit zwischen 1960 und 2000 hauptsächlich Einfamilienhausquartiere gebaut. Heute sind im Kanton St. Gallen 60% vom Wohngebäudebestand EFH. Sie verkörperten Individualismus, Ruhe und Unabhängigkeit und haben für ihre Generation den Fortschritt symbolisiert. Das Baureglement, das in vielen Kantonen ebenfalls in den 60ern entstand, wurde auf diese Bebauungstypologie ausgelegt. Die Grundsätze dafür stammen aus einer Zeit, in der Brandkatastrophen und Epidemien mit Grenzabständen bekämpft worden sind, Abgase und Lärm wurden durch Nutzungstrennung verhindert und ein hoher Freiflächenanteil sorgte für ausreichend Luft, Licht und Sonne. Im Laufe der Zeit wurde das Baureglement stetig erweitert, durch Regelungen zur Dachaufbauten, Verordnungen zu Parkplätzen bis hin zu Vorschriften zur Höhe der Bepflanzung. Mit jeder Erweiterung wurde das Konfliktpotenzial zwischen Eigentümern, Nachbarn oder der Gemeinde reduziert, damit aber gleichzeitig der Spielraum für Lösungen geschmälert. Dadurch entstand die immer gleiche Besiedlungsstruktur, in der Region Werdenberg wie auch dem Rest der Schweiz.

Im Zuge der RPG-Revision wurde das Modell vom Einfamilienhaus auf der grünen Wiese jedoch zum Stillstand gebracht. Das knappe Bauland steht seither unter enormem Druck. Durch den Einzonungs-Stopp haben sich die Preise des Baulands seit 2008 mehr als verdoppelt. Auf den freien Grundstücken müssen deutlich mehr Leute untergebracht werden als zuvor. Als Folge werden immer mehr Wohneinheiten auf derselben Fläche gebaut und die Strategie “Ersatzneubau” wird immer mehr zur Standardlösung mitsamt ihren beträchtlichen Emissionen. Mit den heutigen Mitteln ist man beim Bauen weder in der Lage, auf die Klimakrise zu reagieren, noch lebenswerte Quartiere zu entwickeln. Wertvolle Bauten werden abgerissen, Parkplätze lassen die Grünflächen verschwinden und Bäume fallen Neubauten zum Opfer. Viele dieser Entwicklungen sind direkt auf die Gesetzgebung zurückzuführen. Diese muss sich, genauso wie in der Vergangenheit an den Herausforderungen der Gegenwart orientieren, statt nur der Vermeidung von Konflikten zu dienen.

Die Evolution unserer Baureglemente

Einfamilienhausquartier als direktes Abbild vom Baureglement © Allen + Crippa Architektur GmbH

Die Folgen einer veralteten Siedlungspolitik

Die Regulierungen, die in der Zeit des Bauens auf der grünen Wiese ihre Berechtigung hatten, produzieren heute ungewünschte Nebeneffekte mit teils gravierenden Folgen für Umwelt und Gesellschaft. Durch die anstehenden und laufenden Revisionen der Baugesetze und Baureglemente in den unterschiedlichen Gemeinden und Kantonen eröffnet sich die einmalige Chance, ebendiese grundlegend neu auszurichten. Anhand von drei Fallbeispielen werden die Hintergründe und Problematiken der heutigen Gesetzgebung kurz erläutert.

Grünraum:
Der schwindende Grünraum ist die offensichtlichste Erscheinung. In ländlichen Gemeinden wurde das Baureglement auf das Einfamilienhaus angepasst. Da das Grundstück in den meisten Fällen deutlich unternutzt war, musste der Grünraum nicht reguliert werden. Dagegen wird festgelegt, wie viele Parkplätze zur Verfügung stehen müssen und wie viel Abstand zum Nachbargrundstück eingehalten werden muss. Heute werden dieselben Flächen bis zur Belastungsgrenze ausgenutzt. Während das Bauwerk selbst einen überschaubaren Fussabdruck hat, wird durch die gesetzlich geregelten Neben- und Erschliessungsflächen nahezu die gesamte Parzelle versiegelt.

Ersatzneubau:
Andere Folgen des hohen Bebauungsdrucks bleiben jedoch für viele unsichtbar. Durch die vielen Ersatzneubauten geht wertvolle Bausubstanz verloren und enorme Mengen an CO2 werden emittiert. Gleichzeitig quillen die Deponien über, sodass lastwagenweise Bauschutt bis nach Deutschland gefahren wird. Weil das Baureglement in vielen Fällen zu wenig Spielraum lässt, können Erweiterungen bestehender Bauten oft nicht mit der Ausnutzung mithalten, die durch Neubauten erreicht werden. Dies führt dazu, dass Eigentümer*innen sich häufig für den Abriss entscheiden.

Baumbestand:
Der Lebensraum der Bäume schwindet durch den erhöhten ökonomischen Druck auf die Parzellen. Dies führt dazu, dass Gebäude immer näher an die Strasse rücken, während der Strassenabstand für Bäume gleichbleibt. Folglich bleibt immer weniger Lebensraum für Bäume übrig. Des Weiteren können Vorschriften zur Versiegelung von Flächen und zur Schaffung von Parkplätzen dazu führen, dass grosse Bereiche asphaltiert werden, wodurch der verfügbare Raum für Bepflanzungen weiter eingeschränkt wird. Zudem müssen Bäume strengere Grenzabstände einhalten als unterirdische Bauten, was deren Pflanzung wegen mangelnder Erdüberdeckung oftmals weiter erschwert. Wenn durch das neue Baureglement die Gebäude näher zusammenrücken, steht der Baum zu nahe am Haus und wird gefällt.

Die Evolution unserer Baureglemente

Auswirkungen auf den Grünraum mit (rechts) und ohne (links) Regelung durch die Grünflächenziffer © Allen + Crippa Architektur GmbH

Die Evolution unserer Baureglemente

Fiktive Stadt aus Bauschutt zeigt alle effektiven Abbrüche und Sanierungen der Gemeinde Buchs SG der letzten 8 Jahre © Allen + Crippa Architektur GmbH

Die Evolution unserer Baureglemente

Restflächen, die für Bäume übrigbleiben, bei max. Ausnützung im Kanton SG © Allen + Crippa Architektur GmbH

Die Chance auf einen Paradigmenwechsel

Es wird immer deutlicher, dass das gegenwärtige Baureglement den heutigen ökologischen und sozialen Herausforderungen nicht mehr gerecht wird. Wir sind an einem Punkt angelangt, an dem weitere Ergänzungen nicht mehr sinnvoll sind, sondern vielmehr eine grundlegende Überarbeitung nötig ist. Die Massnahmen, die zur Bekämpfung von Emissionen und Epidemien eingeführt wurden, haben heute neue Probleme hervorgebracht. Diese Regeln müssen deshalb durch ein Baureglement ersetzt werden, das flexibel genug ist, eine zukunftsweisende Entwicklung im Bestand zu ermöglichen, eine Umbaukultur zu fördern und der Klimakrise gerecht zu werden. Als erster Schritt muss das Ideal der durchgrünten Einfamilienhaussiedlung durch ein neues Ideal ersetzt werden. Dieses Idealbild muss jede Gemeinde zusammen mit der Bevölkerung erarbeiten, um darauf die Grundsätze eines neuen Baureglements aufzubauen.

Statt uns weiterhin auf die Regulierung von Details wie Gaubenformen oder Fenstergrössen zu konzentrieren, sollten wir uns fragen, wie die Gesetzgebung die Schaffung von lebenswerten Quartieren und den Schutz unserer Umwelt unterstützen. Ein einfaches Pflaster, das man auf die heutige Gesetzgebung klebt, reicht nicht aus.

Wir brauchen etwas viel Radikaleres.

ALLEN + CRIPPA

Allen + Crippa ist ein Architekturbüro in Grabs und Zürich. Beide sind im gleichen Dorf aufgewachsen und haben schon während ihrer Zeit an der ETH zusammen ein Büro gegründet. Ihre Projekte reichen vom kleinen Maiensäss Umbau über eine Hausverschiebung eines Blockbaus bis zu raumplanerischen Projekten und Initiativen.

Schon während ihrer Zeit an der ETH haben sie sich intensiv mit ihrer Region beschäftigt und mit dem Projekt einbaureglementfüralle.ch ein alternatives Baureglement für die Gemeinde Grabs entworfen, mit dem Ziel, der Klimakrise beim Bauen gerecht zu werden. Dafür haben sie den Foundation-Award 2023 gewonnen, einen Förderpreis für Baukultur, der innovative Architekturbüros in der Schweiz auszeichnet. allencrippa.com

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