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Erfahrungen und Möglichkeiten, Teil I - Grosse Pläne

Cover Du-Magazin 910, Dezember 2021/Januar2022 © Du Kulturmedien AG

8. Februar 2022
Aita Flury, Rita Illien, Vittorio Magnago Lampugnani, Peter Märkli, Jonathan Sergison | Baukultur persönlich

Erfahrungen und Möglichkeiten, Teil I - Grosse Pläne

Das Gespräch mit Peter Märkli (PM), Rita Illien (RI), Vittorio Magnago Lampugnani (VML) und Jonathan Sergison (JS) unter der Leitung von Aita Flury (AF) fand am 26. August 2021 in Zürich statt. Sie alle haben sich in der einen oder anderen Form an übergeordneten Planungen in der Schweiz beteiligt, sei es in der Stadt, in Suburbia oder im ländlichen Gebiet. Das Gespräch erschien im Du-Magazin 910 vom Dezember 2021/Januar 2022.

AF: Das von der Stiftung Baukultur Schweiz kuratierte Du-Magazin trägt den Titel: Städtebau - die Rückkehr des grossen Plans. Die These lautet, dass für die Bewältigung der heute anstehenden Herausforderungen wie Klimawandel, Zirkularität, Mobilität, innere Verdichtung etc. andere, übergeordnete Betrachtungsebenen und dementsprechend neue Planungsverfahren notwendig sind, welche die Stadtlandschaft in ihrer Gesamtheit involvieren, integrieren. Gerne würde ich eure Meinungen dazu hören.

PM: Wir stehen im Städtebau an einem Neubeginn, da wir in der heutigen pluralistischen Gesellschaft anderen Herausforderungen gegenüberstehen als frühere, geschlossenere Gesellschaften, die gemeinsame Wertvorstellungen hatten. Die einheitliche Gestalt einer Stadt gehört der Vergangenheit an. Heute geht es vielmehr um unterschiedliche Stadtquartiere, die verschiedene Lebensweisen abbilden: Die Einen leben lieber in einem Hochhaus, die Anderen bevorzugen Quartiere mit geschlossenen Strassenzügen. Innerhalb all dieser Vorstellungen sehe ich als kleinsten gemeinsamen Nenner den Schutz des Strassenraums, etwa ein Strassenraum, wie man ihn aus der Renaissance kennt, als ein öffentlicher Raum, an welchem unterschiedliche Gebäude partizipieren.

Erfahrungen und Möglichkeiten, Teil I - Grosse Pläne

Hardtürme in Zürich, in Hintergrund das neue Hochhausquartier Zürich West © Aita Flury

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Geschlossene Blockrandbebauung Zürich Kreis 4 © Aita Flury

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Die mittelalterliche Bebauungsstruktur der Stadt – Abbild der Vorstellung der menschlichen Existenz – bezeichnete Tessenow mit ‚vertikal’. Enge Gassen führen zu weiten Plätzen, wo der Himmel sichtbar wird © Leonardo Benevolo, die Geschichte der Stadt, Campus Verlag Frankfurt/Main

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Die Via Giulia in Rom ist Abbild des veränderten Lebensgefühls in der Renaissance. Entsprechend wird die Horizontale dominant. Entlang der gerade geführten Strasse reihen sich die Stadtpaläste in unterschiedlicher Gestalt © Leonardo Benevolo, die Geschichte der Stadt, Campus Verlag Frankfurt/Main

VML: Sicherlich ist die moderne Stadt die Stadt einer pluralistischen Gesellschaft. Tendenziell war das die Stadt aber immer schon, war immer schon ein Konglomerat aus unterschiedlichen Quartieren (vgl. Du-Magazin 904, Dezember 2020/Januar/Februar 2021). Das Problem, das wir heute im Städtebau haben, sehe ich weniger in der Akzeptanz unterschiedlicher Quartiere, sondern eher im Fakt, dass wir nicht Quartiere bauen: Heute werden Areale realisiert, d.h. Investoren überbauen möglichst grosse, in der Wirklichkeit unseres Immobilienmarkts allerdings immer noch recht kleine Grundstücke, ohne sich um das Links und Rechts davon zu kümmern. Eine Qualität der Stadt sollte also sicherlich in der Collage aus unterschiedlichen Quartieren liegen, die dem Einzelnen die Freiheit gibt, zwischen den Quartieren auszuwählen und seinen Bedürfnissen entsprechend zu wohnen. Die Frage ist aber doch, ob es nicht noch etwas Zusätzliches braucht, welches das Ganze zusammen hält? Eine Stadt hat letztlich doch ein Zentrum, sie wird wahrscheinlich ein Opernhaus, sicher eine Kathedrale oder ein Münster haben: Braucht es nicht noch etwas, das behutsam diese Elemente zusammenhält, damit man sich mit seiner Stadt - nicht nur mit seinem Quartier - identifizieren kann?

PM: Es gab zentralistisch organisierte Städte und andere, die republikanisch, unhierarchisch strukturiert wurden. Letztere sind Paradebeispiele für eine Stadtstruktur, in der jedes Quartier einen Platz hat, wie in Venedig. Womit ich aber absolut einverstanden bin ist, dass man Quartiere bauen muss, z. B. auch Hochhausquartiere.

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Cover Du-Magazin 904, Dezember 2020 © Du Kulturmedien AG

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Auch das ist Venedig: Das süd-östlich liegende Sant’Elena Quartier mit seinem Grünraum © Aita Flury

AF: Braucht es dann allenfalls für die Etablierung unterschiedlicher Quartiere eine übergeordnete Strategie?

RI: Aus meiner Sicht ist das Problem in der sogenannten ‚Raumplanung’ begründet, die weder von Landschaftsarchitekten, Architekten noch von Städtebauern konzipiert ist. Die Kompetenzen der Raumplaner liegen vor allem bei Gesetzeskenntnissen und leider weniger bei räumlichen Vorstellungen. Raum sollte vielmehr von interdisziplinären Teams aus Landschaftsarchitekten, Architekten, Soziologen, Städtebauer, Verkehrsplaner, Biologen etc. geplant werden.

VML: Genau! Alles andere ist ein sich Bewegen in einem nicht räumlich gedachten Korsett. Die Frage der Stadträume, gerade die des Platz- und Strassenraums, muss von Anfang an ins Spiel gebracht werden.

RI: Zudem müssen die jetzt anstehenden Fragen wie z.B. die Biodiversität unbedingt in einem grösseren Massstab angedacht werden. Vernetzungskorridore müssen grossräumlich wie auch im dichten Siedlungsquartier funktionieren.

PM: Ich möchte klarstellen, dass ich übergeordnete Planungen nicht ablehne, sondern vor allem zu bedenken geben wollte, dass man zuerst über die Gesellschaft sprechen muss, bevor man Planungsfragen diskutiert. Es braucht ein allgemein höheres Bewusstsein für diese Fragen, gerade auch auf politischer Ebene.

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Plan von London mit der Darstellung der vom Grossbrand des Jahres 1666 zerstörten Stadtteile und einem von Robert Hooke entworfenen Plan für den Wiederaufbau der Stadt © Leonardo Benevolo, die Geschichte der Stadt, Campus Verlag Frankfurt/Main

Erfahrungen und Möglichkeiten, Teil I - Grosse Pläne

Der phänomenale Aufschwung Londons als Wirtschaftsmacht nach 1689 wurde in keiner Weise kontrolliert oder gesteuert - weder wie in Amsterdam mit Hilfe eines allgemeinen, von der Stadtverwaltung beschlossenen Stadterweiterungsplan, noch - wie in Paris - durch die monumentalen Anlagen des königlichen Hofs © Leonardo Benevolo, die Geschichte der Stadt, Campus Verlag Frankfurt/Main

JS: Für mich ist die Idee des Imperativs, die Stadt als Ganzes anzuschauen, die Basis für die Beurteilung ihrer realen Bedürfnisse. Es ist einleuchtend, dass es unmöglich ist alle diese grossen Fragen lösen zu können, denen die Städte künftig gegenüberstehen, wenn wir sie nicht in ihrer Totalität anschauen. Aus meiner Sicht liegt die Verantwortung aller Akteure, die zur zukünftigen Stadtplanung beitragen, darin, alle Bedürfnisse der Stadt integral zu denken. Sicherlich ist das aber keine ursprüngliche Weise über Städtebau nachzudenken. Mein Background ist ja London, eine Stadt, die nie viel in einen kompletten Stadtplan investiert hat. Diejenigen, die existieren, sind sehr generell und haben wenig Kraft. In London ist die einzige Möglichkeit der Planer heute den Bestand zu schützen. Gleichzeitig wird ein neuer Horror neben dem nächsten gebaut - die Hochhausfragen sind in London völlig ausser Kontrolle geraten. Für mich ist deshalb die Baukultur von Zürich schon bemerkenswert, wenn ich wahrnehme, wieviel in die sogenannten ‚codes’ politisch investiert wird, indem nach unterschiedlichen Regeln gesucht wird, und diese auch stets weitergetrieben werden.

Aita Flury, Rita Illien, Vittorio Magnago Lampugnani, Peter Märkli, Jonathan Sergison

Aita Flury *1969 in Chur, studierte Architektur an der ETH Zürich. Seit 2005 betreibt sie ein eigenes Architekturbüro in Zürich. Neben der praktischen Arbeit war sie in der Lehre tätig (ETHZ/HTW Chur/KIT Karlsruhe), hat die Ausstellung Dialog der Konstrukteure kuratiert und publiziert zu architektonischen Themen. Seit 2021 hat sie ein Mandat für die fachliche Leitung bei der Stiftung Baukultur Schweiz.

Rita Illien
*1965 in Vals, studierte in Rapperswil Landschaftsarchitektur. Seit 2008 führt sie mit Klaus Müller das Büro Müller Illien Landschaftsarchitekten. Neben der Projektarbeit engagiert sie sich in verschiedenen Kommissionen, ist als Wettbewerbsjurorin tätig, begleitet Planungsverfahren als Fachspezialistin und ist Gastkritikerin an Hochschulen.

Vittorio Magnago Lampugnani
*1951 in Rom, ist Architekt und war bis vor kurzem Professor an der ETH; heute lehrt er am GSD in Harvard. Er führt ein Büro in Mailand und gemeinsam mit seinem Partner Jens Bohm eines in Zürich, Baukontor Architekten. Er zeichnete für den Novartis Campus in Basel sowie für das Richti Quartier in Wallisellen verantwortlich.

Peter Märkli
*1953 in Zürich, studierte Architektur an der ETH Zürich und war mit dem Architekten Rudolf Olgiati und dem Bildhauer Hans Josephsohn bekannt. Seit 1978 betreibt er ein eigenes Atelier und war von 2002 bis 2015 Professor an der ETH Zürich. Er lebt und arbeitet als Architekt in Zürich.

Jonathan Sergison
*1964 in St. Asaph, studierte Architektur an der Architectural Association London und gründete 1996 zusammen mit Stephen Bates das Architekturbüro Sergison Bates in London. Im Jahr 2010 eröffnete das Büro ein zweites Studio in Zürich. Seit 2008 ist Jonathan Sergison Professor für Entwurf und Konstruktion an der Accademia di Architettura in Mendrisio, wo er auch Direktor des Instituts für Städtebau und Landschaftsstudien ist.

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