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Erfahrungen und Möglichkeiten, Teil III - Städtische Dichte

Bucheinband ‚Städtische Dichte’ herausgegeben von Vittorio Magnago Lampugnani, Thomas K. Keller, Benjamin Buser © NSL/Avenir Suisse

22. Februar 2022
Aita Flury, Rita Illien, Vittorio Magnago Lampugnani, Peter Märkli, Jonathan Sergison | Baukultur persönlich

Erfahrungen und Möglichkeiten, Teil III - Städtische Dichte

Das Gespräch mit Peter Märkli (PM), Rita Illien (RI), Vittorio Magnago Lampugnani (VML) und Jonathan Sergison (JS) unter der Leitung von Aita Flury (AF) fand am 26. August 2021 in Zürich statt. Sie alle haben sich in der einen oder anderen Form an übergeordneten Planungen in der Schweiz beteiligt, sei es in der Stadt, in Suburbia oder im ländlichen Gebiet. Das Gespräch erschien im Du-Heft 910 vom Dezember 2021/Januar 2022.

AF: Im Dezember 2003 organisierte das Institut für Städtebau ETH Zürich zusammen mit Avenir Suisse das Symposium mit dem Titel ‚Städtische Dichte in der Schweiz - Chancen und Potenziale einer wirtschaftlichen Ausnützung’. Vier Jahre später folgte die von Dir Vittorio Magnago Lampugnani herausgegebene Publikation ‚Städtische Dichte’, 2014 wurde das auf der Grundlage Deines Gestaltungsplanes entwickelte Stadtquartier Richti in Wallisellen fertiggestellt, ein Stück Stadt in Suburbia. Welche Erfahrungen zum Thema städtische Dichte und übergeordnete Planung würdest Du heute, 2021, als die relevantesten subsummieren?

VML: Zum Plädoyer für städtische Dichte stehe ich nach wie vor vorbehaltlos. Unabhängig davon, ob wir mehr oder weniger Wohnraum brauchen, wir müssen immer dicht bauen. Um die Landschaft zu schonen, aber auch, weil es eine kritische Masse braucht, damit eine Stadt gut funktioniert. Wichtig ist allerdings, auf die Qualität der städtischen Dichte zu pochen. Als reine Ziffer, die nicht mit Verortungen, Typologien, Stadträumen verknüpft wird, ist Dichte bedeutungslos. Welche Dichte für einen spezifischen Kontext, für welche Stadträume angemessen ist, kann nur evaluiert werden, wenn die möglichen Lösungen zuerst entwerferisch ausgelotet werden.

Erfahrungen und Möglichkeiten, Teil III - Städtische Dichte

Eine immer grössere Gesamtwohnbaufläche wird von immer weniger Menschen bewohnt. Zwischen 1849 und 1913 ist die Wohnbevölkerung rascher gewachsen als die Wohnbaufläche. Seither sinkt die Einwohnerdichte wieder - seit 1960 rasant beschleunigt. Grafik aus dem Buch ‚Städtische Dichte’, S.21 © Leipziger Büro für urbane Projekte

AF: Die Festlegung individueller Dichten auf der Grundlage von individuellen Entwürfen dürfte in unserem demokratischen System schwer umsetzbar sein.

VML: Grundsätzlich ist nichts dagegen einzuwenden, wenn wir bestimmte Dichten festlegen. Das Problem ist, dass jede Dichteziffer, sobald sie definiert ist, vom Entwickler auch komplett ausgeschöpft wird. Spielräume bleiben keine mehr. Guter Städtebau braucht diese aber zwingend.

PM: Wäre es nicht sinnvoller vor der Bezifferung der Dichte von Bauparzellen vielmehr die Untersuchung des Freiraums zu fokussieren? Unter Freiraum verstehe ich den Strassenzug, den Platz, die Wiese, den Friedhof, den Park, ebenso wie der Freiraum der unterschiedlichen Bebauungsstrukturen. Letzterer wird oft durch eine Überbauung der Zwischenräume zerstört, anstatt die Gebäude höher zu bauen.

RI: Viele übergeordnete Freiräume sind heute bereits geschützt und wichtig scheint mir deshalb auch die Freiräume innerhalb der Baugebiete zu fokussieren. Dort braucht es hohe Freiraumqualitäten, in direkter Beziehung zu den Wohnungen. Diese Freiräume sind heute qualitativ oft eingeschränkt, weil sie meist grösstenteils mit Tiefgaragen unterbaut sind.

Erfahrungen und Möglichkeiten, Teil III - Städtische Dichte

Blick auf das verdichtete Freilagerareal in Zürich Altstetten © Georg Aerni

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Mit Tiefgaragen unterbaute Aussenräume im Freilagerareal in Zürich Altstetten © Georg Aerni

JS: Was mich noch interessiert, Vittorio, ist, was Du aus Deiner realen Bauerfahrung in Suburbia konkret mitgenommen hast, vielleicht auch inwiefern Suburbia und Kernstadt wirklich miteinander vergleichbar sind, in welcher Beziehung sie zueinanderstehen? Dein Richti-Projekt ist eindeutig in einer klassischen, städtebaulichen Tradition verankert, steht aber gleichzeitig in einem komplett anderen Kontext.

VML: Beim Richti stand die Idee einer Initialzündung im Mittelpunkt. Wir wollten dort, also im ausfransenden suburbanen Raum, ein Stück kompakte Stadt bauen; und wir hofften, dass das, was darum herum passieren würde, dieses akzeptieren und weiterführen würde. Diese Hoffnung wurde in keinster Weise erfüllt: Nicht einmal minimale Wegverbindungen wurden jenseits der Strasse wiederaufgenommen. Das meinte ich vorhin: Jeder plant auf dem eigenen Grundstück und hört an der Eigentumsgrenze auf zu denken. Das dabei entstehende Chaos ist eine typische Eigenschaft von Suburbia. Suburbia ist sicherlich die grosse stadtplanerische Herausforderung unserer Epoche, ein Riesenproblem, das wir uns selbst eingebrockt haben. Suburbia existiert erst seit vergleichsweise kurzer Zeit und sie ist nicht einfach Schicksal. Die grossen Stadterweiterungen im 19. Jahrhundert haben ausgesprochen urbane Strukturen geschaffen, warum gelingt uns das nicht? Ich plädiere dafür, dass wir auch bei heutigen Stadterweiterungen an die klassische städtebauliche Tradition anknüpfen, natürlich unter Einbezug aller Probleme und Konflikte, die im suburbanen Raum existieren.

Erfahrungen und Möglichkeiten, Teil III - Städtische Dichte

Blick vom Gleisfeld auf das Richti Quartier © Goran Potkoniak

Erfahrungen und Möglichkeiten, Teil III - Städtische Dichte

Das Richti Quartier von oben © Goran Potkoniak

PM: Ich habe da meine Vorbehalte. Das 19. Jahrhundert war die Zeit, in der die reichen Länder in Europa drei Viertel der Welt beherrschten. Die Gesellschaft bestand aus einer grossen Anzahl von souveränen Bürgern, Geschäfts- und Handelsleuten mit gemeinsamen Vorstellungen. Die bestimmenden Gesellschaften zu dieser Zeit waren also recht homogen.

VML: Georges-Eugène Haussmann ist das Kunststück gelungen, die Form der grossbürgerlichen Stadt zu realisieren. Doch in seinem Paris lebten neben den Bourgeois auch Handwerker und Arbeiter. In Barcelona hat Ildefonso Cerdà, ein überzeugter Marxist, der bürgerlichen Gesellschaft einen Streich gespielt, indem er eine völlig homogene Stadtstruktur geschaffen hat, die eine sozialistische Gesellschaft von Gleichgestellten aufnehmen, ja befördern sollte.

PM: Barcelona ist ein hübsches Beispiel, aber wohl eher ein Einzelfall - die meisten europäischen Städte, auch Zürich, repräsentierten den Geist des Bürgertums. Gleichwohl ist es interessant darüber nachzudenken, warum das Cerdà in Barcelona damals gelungen ist. Es war keine politische Forderung, es war mehr ein kulturelles Statement, das in jener Gegenwart einfach umgesetzt worden ist, ohne dass dessen Bedeutung begriffen wurde. Heute zeigt sich die Situation aber ganz anders. Sie ist geprägt von diesem individualistischen Denken, dem Anspruch, dass Allen das Recht zusteht sich mit einem Bau zu artikulieren.

Erfahrungen und Möglichkeiten, Teil III - Städtische Dichte

Die Abrisspolitik Haussmanns in Paris: eine 1854 veröffentlichte Zeichnung Daumiers; eine Karikatur, die Haussmann als ‚Abrisskünstler’ zeigt; Plan des Gebiets um die Avenue de l’Opéra, in den der neue Strassenverlauf und die auf der Grundlage des Gesetzes von 1850 enteigneten Grundstücke eingezeichnet sind © Leonardo Benevolo, die Geschichte der Stadt, Campus Verlag Frankfurt/Main

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Cerdàs Erweiterungsplan für Barcelona zeigt zwischen den schon bestehenden Dörfern ein regelmässiges Strassenraster, das von den Avenidas Gran Via, Diagonal und Meridiana durchzogen wird, die sich an der Plaça de Catalunya kreuzen © Chair of the History and Theory of Urban Design, Lampugnani Collection, ETH Zürich

Aita Flury, Rita Illien, Vittorio Magnago Lampugnani, Peter Märkli, Jonathan Sergison

Aita Flury *1969 in Chur, studierte Architektur an der ETH Zürich. Seit 2005 betreibt sie ein eigenes Architekturbüro in Zürich. Neben der praktischen Arbeit war sie in der Lehre tätig (ETHZ/HTW Chur/KIT Karlsruhe), hat die Ausstellung Dialog der Konstrukteure kuratiert und publiziert zu architektonischen Themen. Seit 2021 hat sie ein Mandat für die fachliche Leitung bei der Stiftung Baukultur Schweiz.

Rita Illien
*1965 in Vals, studierte in Rapperswil Landschaftsarchitektur. Seit 2008 führt sie mit Klaus Müller das Büro Müller Illien Landschaftsarchitekten. Neben der Projektarbeit engagiert sie sich in verschiedenen Kommissionen, ist als Wettbewerbsjurorin tätig, begleitet Planungsverfahren als Fachspezialistin und ist Gastkritikerin an Hochschulen.

Vittorio Magnago Lampugnani
*1951 in Rom, ist Architekt und war bis vor kurzem Professor an der ETH; heute lehrt er am GSD in Harvard. Er führt ein Büro in Mailand und gemeinsam mit seinem Partner Jens Bohm eines in Zürich, Baukontor Architekten. Er zeichnete für den Novartis Campus in Basel sowie für das Richti Quartier in Wallisellen verantwortlich.

Peter Märkli
*1953 in Zürich, studierte Architektur an der ETH Zürich und war mit dem Architekten Rudolf Olgiati und dem Bildhauer Hans Josephsohn bekannt. Seit 1978 betreibt er ein eigenes Atelier und war von 2002 bis 2015 Professor an der ETH Zürich. Er lebt und arbeitet als Architekt in Zürich.

Jonathan Sergison
*1964 in St. Asaph, studierte Architektur an der Architectural Association London und gründete 1996 zusammen mit Stephen Bates das Architekturbüro Sergison Bates in London. Im Jahr 2010 eröffnete das Büro ein zweites Studio in Zürich. Seit 2008 ist Jonathan Sergison Professor für Entwurf und Konstruktion an der Accademia di Architettura in Mendrisio, wo er auch Direktor des Instituts für Städtebau und Landschaftsstudien ist.

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