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19. April 2022
Ekaterina Nozhova | Baukultur persönlich

Historische hohe Baukultur: das Denkmal als Anstoss zum Weiterdenken

Historische Bauten und Anlagen als wichtige Elemente einer hohen Baukultur

In der ‚Erklärung von Davos’ stellen die in Europa zuständigen Kultusminister einen allgemeinen Verlust an Qualität bei der gebauten Umwelt und der offenen Landschaft fest: Eine Trivialisierung des Bauens, das Fehlen von gestalterischen Werten und ein Desinteresse an echter Nachhaltigkeit hätten sich eingestellt. Ein kurzfristiges wirtschaftliches Denken würde die nachhaltige Entwicklung, bei der öffentliche und private Güter gleichermassen gemehrt werden, bremsen. Im Ergebnis entstünden banale Siedlungen, Bauten und Anlagen, welche viele Jahrzehnte der Nachbesserung brauchen. ‚Um dem entgegenzuwirken müsse die gebaute Umwelt dringend in einem ganzheitlichen, auf die Kultur ausgerichteten Ansatz betrachtet werden; es brauche eine humanistische Vision, wie wir die Orte, in denen wir leben und das Vermächtnis, das wir hinterlassen, gemeinsam gestalten können’.1

In meinem Alltag als gebietsverantwortliche Planungs- und Bauberaterin der Fachstelle Denkmalpflege der SBB habe ich viel mit dem identitätsstarken Bahnbauten-Erbe und mit grossen, den Siedlungsraum prägenden Projekten zu tun. Ich stelle immer wieder fest, wie stark historische Bauten, Anlagen und Ensembles für eine hohe Baukultur wichtig sind. Drei Bauten aus den 60er-Jahren möchte ich in der Folge deshalb kurz vorstellen - allesamt wurden diese vom damaligen Entwurfsarchitekten der Bauabteilung Kreis III der SBB, Max Vogt, geplant.

Seine Bauten gelten als Beispiele des poetischen Funktionalismus, wie Ruedi Weidmann und Karl Holenstein schreiben: ‚Eine Klassifizierung Vogts als Funktionalist würde die Bedeutung des freien Gestaltens, die skulpturalen Qualitäten und damit gerade das Spezielle an seiner Architektur verpassen’.2 Die Räume, Grundrisse und Details der Bauten wirken auf den ersten Blick funktional. Darüber hinaus sind sie aber weit mehr: sie sind architektonisch und städtebaulich entwickelt.

In den wenigen eigenen Texten von Max Vogt über seine Bauten wird seine grosse räumliche Bewusstheit und konzeptionelle Klarheit erkennbar: ‚Die Strassenseite ist ein räumlich gefasster Platz, die Gleisseite ein linearer Raum ohne sichtbare Enden. Dazwischen steht der Bahnhof - man muss ihn anbinden. Man muss ihn am Ort, im gefassten städtischen Raum verankern. Wenn es keinen festen Ort gibt, muss man einen schaffen, an dem der Bahnhof verankert ist, damit er an der Gleislinie ein Zeichen, einen Haltepunkt markieren kann’.3

Genauso akribisch wie Max Vogt in seinen Entwürfen die Anforderungen aller Fachdienste berücksichtigte, analysierte er auch die lokalen Verhältnisse, den städtebaulichen Kontext, sei es bei Grundstücken zwischen Bahn und Strasse oder im endlosen Rangierfeld. Max Vogts Bauten stehen in engem Bezug zu ihrem städtebaulichen und infrastrukturellen Kontext und prägen in der Wechselwirkung durch ihre starke Identität die Orte selber. Es sind nicht normierte Bauten, vielmehr sind es Einzelanfertigungen, bei welchen die architektonischen Themen aus der Überlagerung von Verkehrsbedingungen, Eisenbahntechnik und Stadtraum entwickelt sind.

Die SBB konnte sich ihre Bauten im Rahmen von Bundesverfahren bewilligen lassen. Das heisst, dass der kommunale Einfluss auf das Erscheinungsbild der Bauten und Anlagen sehr gering war. Damit einher ging ein grosser Gestaltungsfreiraum und gleichzeitig eine städtebaulich-architektonische Eigenverantwortlichkeit. Aus letzterer heraus hat sich die SBB selber die Verpflichtung zu hoher Baukultur auferlegt.

Historische hohe Baukultur: das Denkmal als Anstoss zum Weiterdenken

Hauptstellwerk Zürich HB, Objekt von überkommunaler Bedeutung Kanton Zürich, 1965 © Archive und Sammlungen von SBB Historic

Historische hohe Baukultur: das Denkmal als Anstoss zum Weiterdenken

Hauptstellwerk Zürich HB 1966 © Archive und Sammlungen SBB Historic

Historische hohe Baukultur: das Denkmal als Anstoss zum Weiterdenken

Hauptstellwerk Zürich HBF 2006 © Thomas Hussel, Baugeschichtliches Archiv

Historische hohe Baukultur: das Denkmal als Anstoss zum Weiterdenken

Hauptstellwerk Zürich HB 2022 © Ekaterina Nozhova

Das Zentralstellwerk beim Zürcher Hauptbahnhof von 1963

Welche Qualitäten strahlt das Hauptstellwerk in Zürich aus, und welche Geschichten gehen damit einher? Der unübersehbare, strenge Sichtbetonkörper tritt von allen vier Seiten unterschiedlich in Erscheinung. Vom Zug aus wirkt das Gebäude wie ein ungewöhnlich schlanker und geschlossener Turm. Die Zuschreibung zur Eisenbahnwelt ist eindeutig. Der plastische Baukörper aus Beton wird zusammen mit der Schrifttafel, der Uhr, der Antenne und dem weit auskragenden Kommandoraum zum unverwechselbaren Landmark im Gleisfeld vor dem Züricher Hauptbahnhof.

Die Komposition aus horizontalen Elementen ist sehr elegant und wirkt mit ihrem markanten Fensterraster aus waagrechten und senkrechten Elementen ausgewogen. Vom neuen Negrellisteg aus wird heute die Fassade in einer Nahsicht neu wahrnehmbar. Sie hat auch vor dem neuen Hintergrund der Europaallee-Bauten nicht an Kraft eingebüsst. Präzise Details wie die Eckfenster, die Tiefe der Öffnungen und die schräg gestellten Fensterscheiben des Kommandoraums verstärken einen Eindruck von Leichtigkeit, der dem Stellwerk trotz seiner Betonmasse aneignet. Wirkt dieses nun geschlossen und fremd oder repräsentiert es vielmehr das kraftvolle Selbstbewusstsein der Schweizerischen Eisenbahn?

Historische hohe Baukultur: das Denkmal als Anstoss zum Weiterdenken

Gleisansicht Bahnhof Zürich Altstetten, Objekt von überkommunaler Bedeutung Kanton Zürich, 1968 © Adolf Reck, Bildarchiv ETH-Bibliothek

Historische hohe Baukultur: das Denkmal als Anstoss zum Weiterdenken

Gleisansicht Bahnhof Zürich Altstetten 2022 © Ekaterina Nozhova

Historische hohe Baukultur: das Denkmal als Anstoss zum Weiterdenken

Seitenansicht Bahnhof Zürich Altstetten © Heinrich Bruppacher, Baugeschichtliches Archiv Zürich

Aufnahmegebäude mit Wohnaufbau in Zürich Altstetten 1966

Ein weiteres wichtiges Objekt von Max Vogt im Gleisfeld - unweit des Stellwerks Zürich - ist das nach 1965 entstandene Bahnhofgebäude in Zürich-Altstetten. Dieses Gebäude richtet sich auf den zur Bauzeit entstehenden Altstetterplatz aus und dominiert diesen bis heute. Nach einer langen Debatte mit der SBB stellte die Stadt Zürich damals fest: ‚Sofern das Haus im Allgemeinen und dessen Dachaufbauten im Besonderen in zurückhaltendem, nicht grellem Farbton ausgeführt werden, kann es in seiner näheren und weiteren Umgebung hingenommen werden’.4

Die Wohnräume sind auf der gleisabgewandten Sonnenseite situiert, die Erschliessung durch einen Laubengang dient dem Lärmschutz. Die durchlaufenden Betonbrüstungen der Laubengänge und verschatteten Wandbereiche mit Eintrittstüren bilden eine horizontale Komposition, die vorgelagerte Feuertreppe setzt einen starken vertikalen Akzent. Das zehngeschossige, scheibenartige Bahnhofsgebäude in Altstetten wirkt wie eine Skulptur am Gleis. Wie fühlt sich das Wohnen im Hochhaus am Gleisrand an? Für die Stadt Zürich war dies im Jahr 1966 eine fast revolutionäre Frage. Das Wohnhaus in Altstetten wurde kurz nach seiner Erstellung mit einer Auszeichnung für gute Bauten der Stadt bedacht. ‚Die Beurteilung erfolgte nicht nach einem ‚Punkteverfahren’, sondern auf Grund eines differenzierten Abwägens am einzelnen Objekt. Es gab Bauten, bei denen schon die Baugesinnung des Bauherrn eine wichtige Rolle spielte. Bei anderen Objekten wurde vor allem die Gesamtanlage und nicht die Detailgestaltung als auszeichnungswürdig empfunden’.5

Historische hohe Baukultur: das Denkmal als Anstoss zum Weiterdenken

Traktorenremise Effretikon, Objekt von überkommunaler Bedeutung Kanton Zürich, 2010 © Markus Fischer

Traktorenremise in Effretikon 1962

Dass historische hohe Baukultur nicht unbedingt gross und hoch sein muss, um wirkungsmächtig zu sein, zeigt die Traktorenremise in Effretikon. Ein kompakter Baukörper in Sichtbeton regt zum Denken an: Die Dachplatte ist ausserordentlich dick, die Rückwand wirkt ungewöhnlich dünn, die vertikalen Fensterfelder sind auf unerwartete Weise in der Ecke und in den Toren platziert. An der Hauptfassade inszenieren zwei massive Betonstirnen die zwei parallelen, tragenden Wände. Eine bewusste Vergrösserung aller Elementen kompensiert die fehlende Baumasse: das kleine Gebäude wirkt monumental und erzählt mittels architektonisch einfacher Mittel eine poetische Geschichte.

Epilog

Die oben beschriebenen drei Bauten sind wichtige Bestandteile der hohen Baukultur der SBB. Ihrer Qualitäten wegen sind sie im Inventar der schützenswerten Bauten und Anlagen der SBB (ISBA) und im Inventar der Denkmalschutzobjekte des Kantons Zürich eingetragen. Für die Aufnahme in ein Inventar ist die Summe mehrerer Eigenschaften entscheidend. ‚Baukulturelle Qualität’ lässt sich schwer formalisieren. Am ehesten handelt es sich um eine Summe der Hauptaspekte ‚Städtebauliche Relevanz’, ‚Architektonische Kraft (Ausdruck)’ und ‚Konstruktive Sinnhaftigkeit’. Darüber hinaus gibt es bei den anerkannten Denkmälern aber meist auch etwas zu entdecken, das man als Strom, als Fluss bezeichnen könnte, der diese Qualitäten miteinander verbindet, sie intensiviert und daraus ein Narrativ, etwas sinnlich Bewegendes formt.

1 Erklärung von Davos 2018, https://davosdeclaration2018.ch

2 Weidmann, Ruedi, Holenstein, Karl: Max Vogt – Bauen für die Bahn 1957-1989, Zürich 2008, S. 28

3 Weidmann, Ruedi, Holenstein, Karl: Max Vogt – Bauen für die Bahn 1957-1989, Zürich 2008, S. 31

4 Auszug aus dem Protokoll des Regierungsrates des Kantons Zürich, Sitzung vom 5. Mai 1966

5 Auszeichnung guter Bauten in Zürich, in: Schweizerische Bauzeitung Nr.6, 1972

Ekaterina Nozhova

Ekaterina Nozhova *1979 in Moskau, studierte Architektur in Moskau und erwarb ihren Doktortitel an der ETH Zürich. Sie war 10 Jahre lang als Architektin tätig und arbeitete anschliessend von 2010-2015 als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Denkmalpflege und Bauforschung an der ETH Zürich. Seit 2015 ist sie als gebietsverantwortliche Planungs- und Bauberaterin der Fachstelle für Denkmalpflege der SBB tätig.

Ekaterina Nozhova
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