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Normen, Ordnungen und Baukultur

Kongresshaus Zürich © Kongresshaus Zürich AG

27. September 2021
Aita Flury | Baukultur persönlich

Normen, Ordnungen und Baukultur

Ein Kommentar zum 1. SIA Ordnungstag vom 16. September 2021 im Kongresshaus Zürich

Wie beeinflussen Normen- und Ordnungswerke die Qualität von Baukultur? Die ganztägige Veranstaltung des 1. SIA Ordnungstags, der professionell organisiert und moderiert per livestream aus dem alt-neuen Kongresshaus übertragen wurde, hat in eindrücklicher Weise aufgezeigt, dass es sich dabei um sehr vielschichtige und relevante Fragestellungen handelt. Dabei unterscheiden sich die Handlungs- und Anweisungsfelder von Normen und Ordnungen: „Während die Normen regeln, was wir planen, regeln die Ordnungen, wie wir arbeiten, was die Bauherrschaften von uns erwarten dürfen. Es geht um gegenseitige Verantwortung, um Fairness, es geht um Geld, um Messbares und um schwer Messbares.“ 1

In Form von Kurzreferaten oder Podiumsdiskussionsbeiträgen beleuchteten zahlreiche namhafte Vertreterinnen und Vertreter aus der Bau- und Planungsbranche, den Verbänden, der Politik und Wissenschaft einzelne Aspekte innerhalb von vier übergeordneten Themenbereichen: “Grenzen ziehen, Regeln setzen“, „Qualität als Resultat“, „Relevanz der Rollen“, „Perspektiven zeichnen, Ressourcen schonen“.

Den anschaulichsten Beitrag in Bezug auf den Zusammenhang zwischen Normen/Ordnungen/Verträgen und der Qualität von Baukultur hat das Praxisbeispiel Instandsetzung Tonhalle/Kongresshaus im Block „Relevanz der Rollen“ vermittelt. Die darauf aufbauende Podiumsdiskussion über die Verantwortung von Bauherrschaften brachte zudem in aller Klarheit hervor, dass Organisationsform und Vertragswesen zwischen allen am Bau Beteiligten die Qualität eines Bauwerks massgeblich beeinflussen.

Normen, Ordnungen und Baukultur

Mit Kohlenstoffgewebe ertüchtigte Stützen unter Pilzdecke © CBP Ingenieure

Normen, Ordnungen und Baukultur

Bauzustand Gartensaalerweiterung mit Tragwerk der erhaltenen Tragstruktur im Bereich des heutigen Gartensaalfoyers © CBP Ingenieure

In drei Kurzreferaten skizzierten die Schlüsselpersonen der Planung, Markus Dreher (Projektleitung Architekt, Diener & Diener Architekten, Basel), Josef Dora (Projektleitung Bauingenieur, Conzett Bronzini Partner AG, Chur) und Erich Offermann (Gesamtprojektleitung, OAP Architekten, Zürich) wie sie die Zielkonflikte, die mit einem solch komplexen Bauvorhaben unweigerlich einhergehen, geschickt untereinander ausbalanciert haben. Es sind grosse Anstrengungen, die unternommen werden müssen, um einen Gebäudekomplex wie die Tonhalle/Kongresshaus, der über verschiedene Bauepochen (1895/1938/1984) mit unterschiedlichen Konstruktionsweisen erbaut worden ist, instand zu stellen. So ist z.B. der Erhalt eines Tragwerks, das den heutigen Normen nicht entspricht, nur mit viel konstruktiver Intelligenz und grossem Wissen zu bewerkstelligen. Bereits die Bewertung des Feuerwiderstandes des bestehenden Tragwerks ist eine Herausforderung: Wie der Bauingenieur Josef Dora ausführte, behalf man sich hier mit der Anwendung des Eurocodes anstelle der SIA Norm: Der Eurocode liefert gegenüber der SIA-Norm detailliertere Angaben zur Bewehrungsüberdeckung, indem er zwischen Hauptbewehrung und Bügelbewehrung sowie Tragrichtung/Tragsystem unterscheidet.

Normen, Ordnungen und Baukultur

Planausschnitt Ertüchtigung Fachwerkbinder bei Tonhallendach © CBP Ingenieure

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Dachraum Tonhalle mit Ertüchtigung der bestehenden Fachwerkbinder aus dem Jahr 1895 © CBP Ingenieure

Bei verkleideten Bauteilen kam es teilweise zu Gratwanderungen zwischen den Interessen der Gebäudeversicherung und denjenigen der Denkmalpflege, was Kompromisse von beiden Seiten erforderte. So konnte z.B. bei einer denkmalgeschützten, verkleideten Decke mit ungenügendem Brandwiderstand aufgezeigt werden, dass zwar Einzelbauteile der Geschossdecke infolge Brand frühzeitig versagen können, ein Gesamteinsturz jedoch ausgeschlossen werden kann. Teilweise wurden auch alternative Nachweisverfahren gewählt, wie der Gesamtleiter Erich Offermann ausführte. Der Tatbeweis des ausreichenden Brandschutzes in der grossen Tonhalle z.B. wurde über eine Brandsimulation mit nachfolgendem Heissrauchtest erbracht. Die Planer waren immer wieder aufs Neue gefordert Ideen zu entwickeln, um die Ziele der Normen auf anderen Wegen zu erreichen.

Normen, Ordnungen und Baukultur

Rauchtest in der grossen Tonhalle © Erich Offermann

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Grosse Tonhalle © Georg Aerni

In der anschliessenden Diskussion zwischen Erich Offermann (Präsident Zentralkommission für SIA Ordnungen), German Grüninger (Implenia AG, Mitglied der Konzernleitung), Patrick Middendorf (PMP Rechstanwälte, Zürich) Salome Hug (Schnetzer Puskas Ingenieure, Basel) war man sich darin einig, dass architektonische Qualität in direktem Zusammenhang steht zu einem partnerschaftlichen Verständnis von Bauen, das auf dem gemeinsamen Lösen von Problemen basiert. Wie German Grüninger betonte, sei es für eine Bauherrschaft auch nur ein Irrglaube, dass durch konfrontative Verträge mit Planenden/Unternehmern und/oder dem zusätzlichen Dazwischenschalten von Bauherrenvertretungen sämtliche Risiken abschiebbar würden. Vielmehr würden Projekte, die auf konfrontativen Systemen aufgebaut sind, vermehrt als Gerichtsfälle enden. Als zukunftsfähiger stufte die Runde deshalb sogenannte Allianz Modelle ein: Australische Modelle, die auf partnerschaftlichen Verträgen zwischen allen Beteiligten - also Planern, Unternehmern und Bauherrschaft - aufbauen. Die Runde war sich einig, dass die heute herrschende „blame-culture“ nicht zur baukulturellen Qualität beiträgt. Der Weg führe vielmehr hin zu einer no-blame-culture, auch wenn die Schweizer Rechtsordnung auf die darin auftauchenden heiklen Fragen noch Antworten finden muss. Klar ist, dass bei solch komplexen Planungsaufgaben die Qualität der Bauherrschaft, ihre Besteller- und Entscheidungskompetenz, aber eben auch die gewählten Vertragsmodelle für die Bauqualität eine zentrale Rolle spielen.

1 Definition gemäss SIA Präsident Peter Dransfeld im Grusswort des Programmhefts des 1. Ordnungstags SIA

Aita Flury

Aita Flury *1969 in Chur, studierte Architektur an der ETH Zürich. Seit 2005 eigenes Architekturbüro in Zürich. Neben der praktischen Arbeit verschiedene Lehrtätigkeiten (HTW Chur/KIT Karlsruhe), zahlreiche Publikationen zu architektonischen Themen und Kuratorium der Ausstellung „Dialog der Konstrukteure“. Seit 2021 Mandat als fachliche Co-Leitung bei der SBS. www.aitaflury.ch

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