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Verlust von Wert und Identität - Ein Gespräch über materielle und immaterielle Kulturgüter

Luftbild der Maag Zahnradfabrik, Mitte 1970er Jahre © BAZ

26. April 2022
Silke Langenberg und Stadtzürcher Heimatschutz | Baukultur persönlich

Verlust von Wert und Identität - Ein Gespräch über materielle und immaterielle Kulturgüter

Das folgende Gespräch greift die gegenwärtige Diskussion über den im Februar 2021 entschiedenen Wettbewerbs ‚Maaglive’ auf dem Maag Areal in Zürich auf. Aufgrund des ausgewählten Siegerprojekts ist der Fortbestand eines der letzten baukulturell wichtigen und wertvollen Industrieensembles in Zürich nicht mehr gewährleistet. Petra Hagen Hodgson, Evelyne Noth und Ann-Kathrin Seyffer führten das Gespräch - hier in gekürzter Fassung - mit Silke Langenberg, Professorin für Konstruktionserbe und Denkmalpflege an der ETH Zürich für das am 2. Januar 2022 publizierte Neujahrsblatt des Stadtzürcher Heimatschutzes SZH zum Maag Areal. Dieses kann über kontakt@heimatschutzstadtzh.ch bezogen werden.

Frau Langenberg, welche Wertverluste drohen bei Aufgabe eines Industrieareals?

Die Aufgabe von Industriearealen geht - durch den Abbruch von Gebäuden - in der Regel mit materiellen Verlusten und den damit verbundenen historischen oder städtebaulichen Werten einher. Darüber hinaus kommt es aber auch zum Verlust anders gelagerter immaterieller Werte. Hierzu können Authentizität und Identität zählen, aber beispielsweise auch Wissen um historische Produktionsabläufe, Arbeitsbedingungen oder Herstellungstechniken.

Im Maag Areal sind weite Teilbestände der baulichen Anlagen schon lange verloren. Nichtsdestotrotz ist die Erinnerung an die industrielle Vergangenheit des Areals durch den Erhalt unterschiedlicher Relikte wie die Maag Hallen, aber auch unscheinbarerer Dinge wie beispielsweise die alten, mittlerweile ungenutzten Gleisanlagen noch spürbar. Je mehr diese physischen Relikte verloren gehen, desto eher geht auch die Erinnerung an die Geschichte des Areals verloren.

Verlust von Wert und Identität - Ein Gespräch über materielle und immaterielle Kulturgüter

Im Schatten des Primetowers - das Maag Areal heute © Aita Flury

Lässt sich der materielle Verlust der Industriebauten durch die Vermittlung immaterieller Werte aufwiegen?

Selbstverständlich kann die Erinnerung an das Maag Areal auch auf andere Weise wachgehalten werden. Es gibt verschiedenste Möglichkeiten, die Geschichte eines Ortes zu dokumentieren und auch im öffentlichen Raum weiterhin erfahrbar zu machen - beispielsweise durch Ausstellungstafeln, Strassennamen oder Platzbezeichnungen. Diese können aber den Verlust materieller Erinnerungsträger nicht aufwiegen. Denn ‚ortsgebundene und öffentlich wahrnehmbare Objekte begleiten durch ihre physische Präsenz das Leben des Menschen auf besonders intensive Weise. Sie halten die Erinnerung wach.’1 Das vermag eine Dokumentationstafel oder ein Strassenschild kaum.

Ein Industrieareal ist in der Regel zahlreichen Transformationen unterworfen, die mit veränderten Produktionsabläufen oder Entwicklungen des Gebietes zusammenhängen. Muss der jetzige Umbau des Maag Areals einfach als weiterer Schritt in diesem Prozess betrachtet werden?

Das kann man natürlich so sehen. Das Areal ist ein Teil der Stadt, die sich ja auch im ständigen Umbau befindet. Wenn in einem Quartier ganze Ensembles oder wie im Maag Areal einzelne Objekte unter Schutz gestellt sind, ist der weitere Umbau allerdings eingeschränkt, wenn auch nicht verunmöglicht. Auch das Maag Areal ist ja trotz der Unterschutzstellung von Teilbereichen weiterentwickelt worden. Es stellt sich einfach die Frage, wie weit der Transformationsprozess ohne Verlust von Authentizität und Identität des Areals gehen kann. In Deutschland kenne ich beispielsweise im Ruhrgebiet verschiedene ehemalige Zechenanlagen, die mit Ausnahme der charakteristischen Fördertürme vollständig abgeräumt und als Gewerbe- oder Technologiezentren neu entwickelt wurden.2 Am Ende erinnerte nur noch der Name des Gebietes oder der Tram-Haltestelle an seine Vergangenheit. Der als einziges Relikt zwischen Neubauten erhaltene Turm wirkt eher irritierend und dient vor allem der Adressbildung.

Verlust von Wert und Identität - Ein Gespräch über materielle und immaterielle Kulturgüter

Maag Hallen Maschinenstrasse © Mara Truog Zürich

Verlust von Wert und Identität - Ein Gespräch über materielle und immaterielle Kulturgüter

Galerie Härterei © Mara Truog Zürich

‚Herstellung von Identität’ lautete im Jahr 2000 die Maxime bei der Ausschreibung des Studienauftrages Maag Areal Plus, die mit der Einbindung des Bestandes generiert werden sollte. Wie kann Ihrer Meinung nach architektonische Identität hergestellt werden?

Mich irritiert die Idee, architektonische Identität ‚generieren’ oder ‚herstellen’ zu wollen. In meinem Verständnis hat Identität vor allem etwas mit ‚Echtheit’, mit eigener oder fremder Wahrnehmung und mit Entwicklung - aus sich selbst heraus - zu tun. Bei dem zitierten Leitsatz ging es wohl in erster Linie darum, die Identität des noch existierenden Bestandes für das Gesamtareal zu nutzen. Die bestehenden Bauten und Strukturen wurden im Jahr 2000 also offensichtlich als identitätsstiftend wahrgenommen.3 Umso mehr erstaunt es, dass sie nun nach und nach fast vollständig verschwinden. Als ob sich ihre Identität auf die Neubauten übertragen hätte und sie damit überflüssig wären.

Verlust von Wert und Identität - Ein Gespräch über materielle und immaterielle Kulturgüter

Bistro K2 im Gebäude K © Mara Truog Zürich

Verlust von Wert und Identität - Ein Gespräch über materielle und immaterielle Kulturgüter

Bistro K2 im Gebäude K © Mara Truog Zürich

Hat Identität auch etwas mit Nachhaltigkeit zu tun?

Das finde ich eine schwierige Frage. Wenn wir Identität als eine immaterielle Ressource betrachten, die begrenzt ist und sich nicht so leicht regenerieren kann, dann sollten wir im Sinne der Nachhaltigkeit sicher verantwortungsvoll mit identitätsstiftenden Objekten umgehen. Darüber hinaus denke ich, dass die Identität eines Objektes auf jeden Fall nachhaltig wirkt - auf die Umgebung, die Gesellschaft, die Stadt.

Was sicher etwas mit Nachhaltigkeit zu tun hat, ist die Erhaltung bestehender Bauten - auch wenn sie nicht als Denkmal geschützt sind. Gebäude leichtfertig aufzugeben, ist keine besonders fortschrittliche Haltung.

1 Eidg. Kommission für Denkmalpflege (Hrsg.), Leitsätze zur Denkmalpflege in der Schweiz, Zürich 2007

2 Siehe hierzu auch: Uta Hassler/ Niklaus Kohler, Das Verschwinden der Bauten des Industriezeitalters, Tübingen/Berlin 2004

3 Eduard Müller, Identität und Baudenkmal, NIKE-Bulletin 6, 2013, S. 14–19

Silke Langenberg

Silke Langenberg ist Professorin für Konstruktionserbe und Denkmalpflege an der ETH Zürich. Ihre Forschungsarbeiten beschäftigen sich neben denkmaltheoretischen und -praktischen Herausforderungen im Umgang mit den grossen Beständen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, mit der Rationalisierung von Bauprozessen sowie Fragen der Entwicklung, Reparatur, Würdigung und langfristigen Erhaltung von seriell, industriell und digital hergestellten Konstruktionen.

Silke Langenberg

Stadtzürcher Heimatschutz

Die Stadtzürcher Vereinigung für Heimatschutz SZH (kurz: Stadtzürcher Heimatschutz SZH) ist vor fast 50 Jahren, am 26. April 1973 als Sektion des Zürcher Heimatschutz ZVH entstanden. Er ist ein privatrechtlicher, selbständiger Verein, der sich für den Erhalt und den respektvollen Umgang mit historisch, baukulturell und städtebaulich wertvollen Liegenschaften, Gärten, Freiräumen und Ortsbildern einsetzt. www.heimatschutzstadtzh.ch

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