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Wie der Standard Nachhaltiges Bauen ‚Städtebau und Architektur’ misst - Teil I

Der Mensch. Das Mass aller Dinge © Bau-Entwurfslehre Prof. Ernst Neufert

29. März 2022
Marina Tüscher | Baukultur persönlich

Wie der Standard Nachhaltiges Bauen ‚Städtebau und Architektur’ misst - Teil I

Raumluftqualität, Lebenszykluskosten oder Energiebedarf eines Gebäudes lassen sich zweifelsohne berechnen. Anhand welcher Kriterien aber lässt sich städtebauliche Qualität messen? Was macht nachhaltige Architektur aus? Der SNBS macht nachhaltiges Bauen an insgesamt 45 Indikatoren fest. Diese betrachten die gesellschaftliche, wirtschaftliche und ökologische Nachhaltigkeit in integraler Weise, vom Standortentscheid über die Projektentwicklung bis hin zum Bauprozess. Zudem bauen sie auf Bestehendem auf, beziehen die bekannten Schweizer Normen und Richtlinien mit ein und orientieren sich an der Schweizer Baukultur.

Wie der Standard Nachhaltiges Bauen ‚Städtebau und Architektur’ misst - Teil I

Der SNBS 2.1 Hochbau gliedert sich in die Bereiche Gesellschaft, Wirtschaft und Umwelt. Zwölf Themen unterteilen die drei Bereiche einerseits in je vier Schwerpunkte und fassen die 45 Indikatoren andererseits zu einem grösseren Ganzen zusammen. Bewertet wird auf Ebene der Indikatoren © SNBS Hochbau

Da ein überzeugendes Gebäudekonzept wortwörtlich den Grundstein für nachhaltiges Wohnen, Arbeiten oder Lernen legt, spielen ‚Städtebau und Architektur’ eine zentrale Rolle beim SNBS. Neben ‚101.1 Ziele und Pflichtenhefte’ ist ‚102.1 Städtebau und Architektur’ der Einzige der 45 Indikatoren, der zwingend genügend sein muss. Lässt die architektonische Qualität zu wünschen übrig, kann das Gebäude den Standard Nachhaltiges Bauen Schweiz nicht erreichen. Eine Mehrheit von Bauträgerschaften führt für ihre Projekte Architekturwettbewerbe oder -studienaufträge durch. Konkurrenzverfahren mit einem Beurteilungsgremium aus unabhängigen Expertinnen und Experten bewähren sich, um die Rahmenbedingungen zu einem frühen Zeitpunkt zu klären und bieten zudem den Luxus, aus einer Bandbreite von Lösungen denjenigen Vorschlag auswählen zu können, der den Bedürfnissen der Trägerschaft am meisten entspricht. Kam das Projekt jedoch aufgrund eines Direktauftrags zustande, schlägt der SNBS sechs Messgrössen vor:

1 Städtebau, Siedlung und Aussenraum
2 Architektonisches Konzept
3 Funktionalität
4 Material, Konstruktion und Farbe
5 Baukultureller Wert und Gesamtwirkung
6 Fairness und Auftragsbedingungen

Ein Gremium, das sich in der Regel aus zwei Architekt*innen und einem Landschaftsarchitekten zusammensetzt, diskutiert die Themen anhand von je vier bis fünf Unterkriterien und stellt die Objektivität der Beurteilung sicher. Die Messgrössen werden hier kurz vorgestellt und deren Aussage über Qualität respektive Nachhaltigkeit anhand von beispielhaften Fragen und zwei konkreten Bauprojekten - Wohnneubau Schlosserei der Wohnbaustiftung Baden und SLF-Werkstattgebäude der Eidgenössischen Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft WSL - illustriert.

Wie der Standard Nachhaltiges Bauen ‚Städtebau und Architektur’ misst - Teil I
Wie der Standard Nachhaltiges Bauen ‚Städtebau und Architektur’ misst - Teil I

Die Gestalt des fünfgeschossigen Wohnneubaus anstelle der ehemaligen Schlosserei an der Oberstadtstrasse in Baden ist aus den umliegenden Geometrien heraus entwickelt und bietet eine überzeugende Ausgangslage für hochwertige Wohnungsgrundrisse © Demuth Hagenmüller & Lamprecht Architekten Zürich

1 Städtebau, Siedlung und Aussenraum

  • Städtebauliches Konzept, Qualität der volumetrischen Setzung und bauliche Dichte
  • Beziehung zum natürlichen und gebauten Umfeld, Umgang mit Bestand
  • Zonierung und Erschliessung im Aussenraum sowie die Qualität der Gestaltung
  • Beitrag zur Identität des Quartiers

Obwohl die Erneuerung von bestehenden Gebäuden ökologisch erstrebenswert ist, entscheiden sich Bauträger*innen aus mitunter wirtschaftlichen Gründen oft für den Ersatzneubau und schöpfen bei dieser Gelegenheit Ausnutzungsreserven aus. Verdichtung ist aber nicht nur wirtschaftlich attraktiv, sondern auch ganz im Sinne des nachhaltigen Umgangs mit der Ressource Boden. Sechsspänner sind da keine Ausnahme mehr, sondern eher die Regel. Umso wichtiger werden vor dem Hintergrund der Maximierung der Quantität Fragen nach der Qualität. Wie ordnet sich das städtebauliche Konzept in die Umgebung ein? Ist die Dichte verträglich? Bei grösseren Überbauungen kommen die städtebaulichen Kriterien besonders zum Tragen. Gelingt es den Verfasser*innen die neue Siedlung mit dem Kontext zu verknüpfen? Treten die Gebäude zueinander in Beziehung und werden attraktive Zwischenräume gebildet? Neben der Qualität der volumetrischen Setzung stehen bei Arealen die Erdgeschossnutzung und die Gestaltung des Aussenraums im Fokus der Betrachtung. Zeigt das Konzept aneigenbare Aussenräume wie z.B. Spielplätze, gemeinschaftlich genutzte Grünflächen, Orte der Begegnung? Gerade bei Ersatzneubauten ist ja die Frage hinsichtlich der gesellschaftlichen Nachhaltigkeit von grösster Wichtigkeit: Inwiefern gewinnt das Quartier dank des Bauvorhabens an Identität?

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Wohnungsbau Oberstadtstrasse Baden Erdgeschoss: Trotz hoher Dichte schaffen die Architekt*innen dank zweier Zugänge auf der Erdgeschossebene eine hohe Durchlässigkeit. Die Durchmischung mit Gewerberäumen und Studiowohnungen im Erdgeschoss beleben den Ort © Demuth Hagenmüller & Lamprecht Architekten Zürich

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Grundrisse Regelgeschoss: Die Wohnungsgrundrisse sind gut proportioniert. Die Wohn-/Essräume sind jeweils über Eck mit einer Terrasse verknüpft. Die Gebäudetypologie ist schlüssig und bietet eine angemessene Struktur für verdichtetes Wohnen © Demuth Hagenmüller & Lamprecht Architekten Zürich

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Grundriss Attikageschoss: Ein Gemeinschaftsraum mit Waschküche im Dachgeschoss ist Ort der Begegnung.
© Demuth Hagenmüller & Lamprecht Architekten Zürich

2 Architektonisches Konzept

  • Grundrissqualität
  • Gebäudetypologische Qualität
  • Räumliche Qualitäten
  • Nutzungsqualitäten (anhand des Nutzungskonzepts)
  • Übersetzung von allfälligen gesellschaftspolitischen Konzepten (z. B. Leitbilder) ins architektonische Projekt

Auch bei der Wahl der Gebäudetypologie sowie bei der Entwicklung der Grundrisse stehen Architekt*innen vor der Herausforderung, den Spagat zwischen maximaler Ausnutzung und gestalterischen Ansprüchen zu schaffen. Bei der Beurteilung des architektonischen Konzepts stehen folgende Fragen im Vordergrund: Mit welchen architektonischen Mitteln gewinnt der Entwurf dem dichten Raumprogramm eine Qualität ab? Sind die Wohnungsgrössen angemessen? Gelingt es ausschliesslich nach Norden ausgerichtete Wohnungen zu umgehen oder deren ungenügende Belichtung auf anderem Weg zu kompensieren? Wie reagiert das Konzept auf spezifische Anforderungen wie zum Beispiel Lärm? Sind die Grundrisse typologisch kongruent? Ist die Repetition ein- und desselben Gebäudetyps innerhalb des Kontexts legitim oder verlangt die spezifische Lage auf dem Areal situativ-kontextuelle Grundrisslösungen? Das Kriterium ‚Räumliche Qualitäten’ legt das Augenmerk auf projekt- oder nutzungsspezifische Eigenheiten, so z.B. die Gestaltung von Gewerbe- oder Gemeinschaftsräumen im Erdgeschoss, von Aufenthalts- und Essräumen bei Altersheimen u.ä.. Gesellschaftspolitische Konzepte bilden bei Genossenschaften Teil ihres Leitbilds, stehen aber bei marktwirtschaftlich orientierten Trägerschaften eher selten im Fokus oder werden zumindest nicht explizit benannt.

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Der architektonische Ausdruck des Wohnneubaus Schlosserei in Baden knüpft mit seiner Metallfassade an die industrielle Vergangenheit an. Die Spiegelung des üppigen Grünraumes in den Fassaden verspricht eine attraktive Wirkung © Demuth Hagenmüller & Lamprecht Architekten Zürich

Wie der Standard Nachhaltiges Bauen ‚Städtebau und Architektur’ misst - Teil I

Auch im Innern wird die sorgfältige Auseinandersetzung mit Material und Farbe weitergeführt. Die massive Gebäudestruktur und gezielt eingesetzte farbliche Akzente erzeugen zusammen mit dem Oberlicht und der künstlichen Beleuchtung eine warme Atmosphäre © Demuth Hagenmüller & Lamprecht Architekten Zürich

Marina Tüscher

Marina Tüscher *1976 in Zürich, studierte Architektur an der ETH Zürich, arbeitete von 2009 bis 2015 beim Hochbauamt der Stadt St. Gallen, baute zunächst die Fachstelle für Wettbewerbe auf und leitete dann als Stellvertreterin des Stadtbaumeisters die Abteilung Projektmanagement, war zuletzt Stellvertreterin des Kantonsbaumeisters im Kanton Thurgau und ist seit 2021 Projektleiterin SNBS beim Verein Minergie in Basel.
www.snbs-hochbau.ch

Marina Tüscher
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