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Städtebau und Architektur als Spiegel unserer Gesellschaft

Noch in den 70er-Jahren ein kleines Bauerndorf mit Wiesen und Obstgärten, wurde es in fünfzig Jahren zur Unkenntlichkeit verbaut. Unwiederbringlich. Es ist nicht so, dass sich hier im letzten halben Jahrhundert niemand mit dem ‚Genius Loci’ - ‚Ort’- beschäftigt hätte. Im Gegenteil. Aber in Abwägung der politischen und gesellschaftlichen Interessen wurden Rendite, Mobilität, Wachstum etc. schlichtweg priorisiert © Werner Binotto, Altstätten

10. November 2021
Werner Binotto | Feuilleton

Städtebau und Architektur als Spiegel unserer Gesellschaft

Es ist verfänglich, wenn wir von ‚guter und schlechter Baukultur’ sprechen. Die Baukultur umfasst all unsere Planungs- und Bautätigkeiten. Es ist die Sicht auf das Ganze. Weil die Dinge im Raum zusammenspielen. Sie tun es gut oder weniger gut, aber gelesen werden sie immer gemeinsam. Die Selektion in schlechte und gute Baukultur unterstützt die Erbsünde der Moderne, seitdem diese sich von der Strasse ins Parzelleninnere zurückgezogen hat.

Es liegt in der Natur der Sache, dass sich Architekt*innen meist mit der Parzelle ihres Bauherrn beschäftigen. Im Idealfall entwerfen sie ein städtebaulich gutes Projekt, das sich auch architektonisch in den Ort integriert. Das ist möglich, auch wenn beide primär ihre eigenen Interessen verfolgen. Ich werde am Schluss des Textes ein solches Beispiele besprechen.

In den letzten fünfzig Jahren wurden die meisten hübschen Ortschaften, Bauerndörfer, bis zur Unkenntlichkeit verbaut. Dabei wurde der öffentliche Raum auf seine monetären Funktionen reduziert und verschwand damit als Lebensraum. Nicht mehr der geformte öffentliche Raum Theodor Fischers regelt die Entwicklung der Siedlung, sondern der in jenen Jahren eingeführte Zonenplan. Im Hintergrund steht nun die Verwertung der Liegenschaften. Die geordnete Siedlung ist nur noch als abstrakte Kennzahl der Dichte fassbar. Die Idee eines Ortsbildes existiert, wenn überhaupt, nur mehr am Rande. Eine Strategie, die in den wenig urbanisierten Gebieten in einem Chaos endete. Da hilft alles Schönreden der Agglomeration im Nachhinein nichts. Bis heute hat sich am Kern dieser übergeordneten Planungen nichts geändert: Die Verwertung ist die Absicht unseres neoliberalen Gesellschaftsmodells. Wachstum durch Konsum und Verbrauch. Zuletzt ist der Zustand unserer Siedlungen der Ausdruck unserer Kultur. Und die ‚hohe oder gute Baukultur’ ist Teil davon.

Städtebau und Architektur als Spiegel unserer Gesellschaft

Die Abwesenheit der Ordentlichkeit. Zonengerecht. Gesetzeskonform. Chaotisch © Werner Binotto, Altstätten

Vor diesem Hintergrund sah ich meine Tätigkeit als öffentlicher Bauherr. Im Hochbauamt legten wir Wert auf eine intensive Beschäftigung mit dem Umfeld unserer Gebäude. Wir hätten uns gewünscht, die Kommunen hätten auf Grund einer Vision klare orts- und städtebauliche Vorgaben formuliert. Gewünscht hätten wir uns oft, dass nicht nur diffuse Allgemeinplätze zur Entwicklung eines Quartiers, einer Strasse oder eines Platzes vorhanden gewesen wären, sondern klare Vorgaben wie Baulinien und Gebäudehöhen etc.

Inzwischen hat sich die Situation aufgrund der politischen Entscheide zur ‚Verdichtung’ weiter verschärft. Da in der Regel seitens der Kommunen keine Visionen für die ‚Innere Entwicklung’ besteht, ist der ‚Ort’ etwas Instabiles geworden. Er kann nicht mehr gelesen werden, weil in der Nachbarschaft praktisch alles möglich ist, solange verdichtet wird. Es ist der Zustand, der zwangsläufig aus der primär monetären Betrachtung und Bewertung der Lage resultiert.

Stabile Orte können heute also nicht mehr aufbauend auf der Lektüre des ‚genius loci’ geschaffen werden, sondern müssen vielmehr durch die vertiefte Auseinandersetzung mit heutigen Bedingungen, wie zum Beispiel das sich verändernde Klima, entwickelt werden. Dazu braucht es adäquate und starke architektonisch-konstruktive Reaktionen.

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Gesamtsituation Salez: Das Landwirtschaftliche Zentrum St. Gallen (LZSG)liegt in der Talebene im St. Galler Rheintal. Inmitten der grosszügigen Rietlandschaft gelegen bildet das Zentrum einen eigenen, weilerartigen Cluster. Damit ist der Ort im Sinne des ‚genius loci’ gesichert. Die Architekt*innen haben vor diesem Hintergrund eine spezifische Lösung erarbeiten können © Geoportal

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Situation Projekt: Der Neubau ist, wie die Mehrheit der Gebäude in der Anlage, gegen Süden ausgerichtet. Damit sind sie jedoch auch den jährlich wiederkehrenden, starken Föhnstürmen ausgesetzt. Zum Schutz der Landschaft sind deshalb seit jeher sogenannte Windschutzgehölze quer zum Tal gebaut. Diese Bepflanzungen prägen das Tal, teilweise bis an den Siedlungsrand. Damit das LZSG in Zukunft vor den Stürmen besser geschützt und verschattet ist, wurde unmittelbar vor dem Neubau ein entsprechender Windschutz aus hochstämmigen Bäumen angepflanzt © Andy Senn Architekt, St. Gallen

Ein Beispiel eines neuen ‚stabilen Ortes’ ist das Landwirtschaftliche Zentrum – ein Schulgebäude und Internat – das der Kanton St. Gallen 2019 in der Gemeinde Salez fertiggestellt hat. Zur Erlangung eines Projekts war ein ‚normaler’ Architektur-Wettbewerb mit der Anforderung Minergie Standard ausgeschrieben worden. Parallel dazu hatte sich das kantonale Hochbauamt mit den Möglichkeiten alternativer Gebäudestandards auseinandergesetzt, ohne diese jedoch bereits im Programm zu formulieren. Idee war, das neue LZSG als Prototyp, als Versuchslabor zur Erprobung solcher Standards gemeinsam mit den Planer*innen zu entwickeln. Dieser Prozess fand erst nach dem Wettbewerbsentscheid statt. In enger Zusammenarbeit mit der Schulleitung, dem aus dem Wettbewerb siegreich hervorgegangenen Architekten, den Gebäudetechnikern und dem HBA wurden in einem kleinen Team die konkreten Lösungen erarbeitet. Danach erfolgte - nun wieder in grösseren Gremien im HBA - die Vertiefung und Formulierung der Bedingungen, bzw. Forderungen. Parallel dazu erarbeiteten die Planer*innen, allen voran die Architekt*innen, die architektonischen und konstruktiven Lösungen.

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Querschnitt LZSG, Salez: Die Belüftung des Gebäudes erfolgt über vertikale Kanäle und einen Fensterschlitz, bzw. direkt über die Fenster. Letztere werden durch einen durchgehenden Laubengang vor der Witterung geschützt. Der Sonnenschutz erfolgt über Schiebeläden. Diese architektonisch-konstruktive Lösung ist aus den örtlich gegebenen Bedingungen des Ortes und den konkreten Bedürfnissen des Betriebes entstanden. Vor dem Wunsch nach einer minimalen betrieblichen Belastung und einer langlebigen Konstruktion © Andy Senn Architekt, St. Gallen

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Lüftungskurbel, LZSG Salez: Die Benutzer*innen können mittels dieser Kurbel die Lüftungskanäle schliessen und öffnen. Es gibt keine Steuerung. Die Bedienung erfolgt händisch. Sie sind also selber für ihr Innenraumklima verantwortlich. Dahinter steht die Überzeugung, dass eine Energiewende zuerst von den Menschen getragen wird und nicht allein mit technischen Mitteln erreicht werden kann © Seraina Wirz, Zürich

Im Zentrum der Überlegungen stand dabei das Innenraumklima, das nicht mehr an die Technik delegiert werden sollte. Eine natürliche Be- und Entlüftung wurde erarbeitet, die den Forderungen der geltenden Gesetze entspricht. Es mussten architektonische Elemente und Themen entwickelt werden, die eine weitgehende Verschattung der Fenster garantierten. Das Rheintal ist ein Föhntal, starke und heftige Stürme sind keine Seltenheit. Deshalb war ein robuster Sonnenschutz notwendig. Gelöst wird das mit einem vorgelagerten Laubengang, der in der Dimension so ausgelegt ist, dass die hochliegenden durchgehenden Verglasungen im Sommer keine Sonneneinstrahlung erhalten. Darunter befinden sich einzelne vertikale Fenster, Ausgänge auf den Laubengang, die den Blick auf die Landschaft und damit die Verortung des Einzelnen ermöglichen.

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Fassadenausschnitt LZSG, Salez: Die Verschattung der Fassade wird durch einen vorgehängten Laubengang erreicht. Er ist so dimensioniert, dass über das Oberlicht im Sommer keine Sonne in die Innenräume eindringen kann. Die Schiebläden können wahlweise geschlossen oder geöffnet sein. Mit diesem System ist eine konstant gute Belichtung der Räume gewährleistet. Über seine Funktion als Sonnenschutz hinaus, wurde der Laubengang im schulischen Alltag auch zu einem beliebten Aufenthaltsraum in den Pausen © Seraina Wirz, Zürich

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Südansicht LZSG, Salez: Die Auseinandersetzung mit dem Ort, seinen spezifischen klimatischen Bedingungen und die Suche nach einer nachhaltigen konstruktiven Lösung für das Innenraumklima, hat zu einer architektonischen Umsetzung geführt, die dem Haus eine einmalige Erscheinung gibt. Es ist geprägt von den durchgehenden Oberlichtern und den darunterliegenden Fassadenwänden hinter einem filigranen Stabwerk. Der breitgelagerte Baukörper wirkt leicht und - obwohl weitgehend geschlossen - trotzdem offen und einladend © Seraina Wirz, Zürich

Das Potenzial der klimatischen Bedingungen und die daraus entwickelten, architektonischen Themen haben das LSZG zu einem ‚stabilen Ort’ werden lassen, der ausstrahlt. Das Beispiel zeigt ein Ergebnis, das entstehen kann, wenn eine Bauherrschaft klare inhaltliche und technische Bedingungen formuliert und diese von den Architekt*innen aufgenommen und geschickt in räumliche Themen transformiert werden. Trotzdem bleibt die Tatsache bestehen, dass die unbefriedigende Entwicklung der Textur von Stadt und Dörfern insgesamt unabänderlich weitergeht und sich dramatisiert: der ‚genius loci’ der Agglomeration ist die unverbindliche Belanglosigkeit. Das ist der Stand der Baukultur.

Werner Binotto

Werner Binotto *1957 in Lüchingen absolvierte in den 70er-Jahren eine Lehre als Bauzeichner. Von 1979 - 1986 studierte er an der Kunstakademie in Düsseldorf und an der Akademie der angewandten Künste in Wien. Danach folgte bis 2006 zusammen mit Diego Gähler die Arbeit als freier Architekt in St.Gallen. 2006 erfolgte die Wahl zum Kantonsbaumeister St. Gallen und der Austritt aus dem eigenen Architekturbüro. Als öffentlicher Bauherr verantwortete das Hochbauamt verschiedene grosse und kleine Bauvorhaben in der Stadt St.Gallen, aber auch in den ländlichen Regionen des Kantons. Die Bauherrentätigkeit wurde von der Gutachtertätigkeit im Bereich des Städtebaues begleitet. Seit 2020 ist Werner Binotto wieder als freier Architekt tätig.

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